Sondernummer 100 Jahre ESTV – Steuern: Anspruch und Wirklichkeit
Geleitwort
Geleitwort
Eveline Widmer-Schlumpf
Eveline Widmer-Schlumpf
Einführung
100 Jahre ESTV: Steuern für die Schweiz
Adrian Hug
Adrian Hug
In ihrer 100-jährigen Geschichte hat sich die Eidgenössische Steuerverwaltung von einer provisorischen Sektion zur Erhebung der Kriegssteuer zum Kompetenzzentrum des Bundes für Steuerfragen gewandelt. Die ESTV erhielt zunehmend Kompetenzen bei der Steuergesetzgebung, bei der Steuerveranlagung, beim Steuerbezug und wurde zur Koordinationsstelle für das Steuerwesen in der Schweiz. Die fachlichen Ansprüche an die Steuerbehörden nahmen und nehmen laufend zu und das Aufgabengebiet der Eidgenössischen Steuerverwaltung weitete sich stetig aus. Auch stellt der Trend zu globalen Standards die über Jahrzehnte unbestrittenen kantonalen Kompetenzen im Steuerrecht in Frage. Der Druck zur Harmonisierung der Schweizerischen Steuerpraxis steigt. Der Eidgenössischen Steuerverwaltung wird dabei eine Schlüsselrolle zukommen.
Ein Blick zurück
Eidgenössische Steuerverwaltung – das «Bundesamt für Steuern»
Peter Fleer
Peter Fleer
Der Beitrag zeichnet die Geschichte der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) seit ihrer Gründung als Eidgenössische Kriegssteuerverwaltung im Jahr 1915 bis ungefähr zur Jahrhundertwende nach. Er zeigt auf, wie sich gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklungen auf die Aufgaben der ESTV niederschlugen und sich deren Organisation entsprechend ausdifferenzierte. Die beiden Weltkriege spielten dabei zwar eine wichtige Rolle, indem sie den Bund jeweils zwangen, neue Einnahmequellen zu erschliessen, und zu einem Aufgabenwachstum der ESTV führten. Es waren aber in erster Linie die tiefgreifenden sozio-ökonomischen Veränderungen der Zwischen- und Nachkriegszeit, die zu einem dauernden Ausbau der Bundeskompetenzen führten und die Entwicklung der ESTV von einer kleinen provisorischen Sektion in ein bedeutendes Bundesamt mit heute über 1’000 Mitarbeitenden nachhaltig beeinflussten.
Schweizerische Steuerwelt(en)
Gisela Hürlimann
Gisela Hürlimann
Dieser wirtschaftsgeschichtlich-finanzsoziologische Beitrag analysiert die Geschichte der Bundessteuern mit Fokus auf die direkten Steuern und die Mehrwertsteuer vom seit 1915 kriegs- und krisenbedingten Dauerprovisorium über die konstitutionelle Verankerung in der Bundesfinanzordnung 1958 bis in die jüngste Zeit. Der erste Teil resümiert die Vorgeschichte ab 1848, als der Bundesstaat ohne eigene Steuermittel lanciert wurde, während der zweite Teil auf die Phase zwischen 1915 und 1958 eingeht. Im letzten Teil wird die Entwicklung von 1959 bis 2015 in groben Strichen tentativ skizziert und eine Periodisierung in fünf Strukturphasen vorgeschlagen: Stabilisierung und Begrenzung (1959–1965), Konjunktur von Gerechtigkeits- und Harmonisierungsdebatten (1966–1978), Abkehr von weitreichender Umverteilung, stattdessen Mittelstands- und Familienorientierung inklusive Durchbruch der Mehrwertsteuer (1979–1993), Verallgemeinerung der Wettbewerbsorientierung im Globalisierungskontext (ca. 1995–2008) und verstärkte Bemühungen um internationale Compliance (seit 2009).
Finanzwissenschaftliche und verfassungsrechtliche Einbettung des schweizerischen Steuerrechts
Fairness im Steuerrecht
René Matteotti
René Matteotti
Fairness im Steuerrecht ist weit mehr als Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Der Begriff umfasst einen ganzen Strauss verfassungsrechtlicher Prinzipien, welche das materielle Steuerrecht, Steuerverfahrens- und Steuerstrafrecht sowie das Übergangsrecht durchdringen. Nach wie vor gilt, dass nur eine faire Steuerrechtsordnung mittel- und langfristig auf Akzeptanz stösst und Rechtssicherheit bieten kann. Die Politik ist daher gut beraten, sich in der Gesetzgebung von den verfassungsrechtlich verankerten Fairnessprinzipien leiten zu lassen und sich nicht wegen Durchsetzung von Partikularinteressen hinter den Schutzbereich des Anwendungsgebots von Art. 190 BV zu verschanzen. Rechtsstaatlich problematisch ist daher der derzeit fehlende Wille, der zutreffenden verfassungsrechtlichen Kritik des Bundesgerichts am bestehenden Teilbesteuerungsverfahren Nachachtung zu verschaffen. Nicht nur in der Hektik der Alltagspolitik, sondern auch in wissenschaftlichen Beiträgen geht mitunter vergessen, dass dirigistischen Massnahmen im Unternehmenssteuerrecht insbesondere auch durch den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit Grenzen gesetzt wird. Steuerliche Massnahmen zur Förderung von Forschung und Entwicklung stellen daher eine delikate verfassungsrechtliche Gratwanderung dar. Paradoxerweise ist es gerade die OECD, welche die Schweiz in verfassungsrechtlich problematische protektionistische Massnahmen treibt. Bei den tiefgreifenden Rechtsänderungen, die aufgrund des internationalen Drucks unter hohem zeitlichen Druck vorgenommen werden, darf die Rechtssicherheit keinen Schaden leiden. Dem Gesetzgeber kommt daher die anspruchsvolle Aufgabe zu, allfällige gegenläufige Interessen beim Übergang von der alten in die neue Steuerrechtsordnung unter Berücksichtigung des Postulats der Rechtssicherheit fair auszutarieren.
Finanzwissenschaftliche Prinzipien der Besteuerung
Christian Keuschnigg
Christian Keuschnigg
Das Steuersystem soll leistungsfreundlich, fair und einfach sein. Mit diesen Anforderungen sind Zielkonflikte verbunden. Reformen sollen die Auswirkungen auf Haushalte und Unternehmen miteinbeziehen. Die leistungshemmenden Wirkungen lassen die Kosten der Besteuerung progressiv mit zunehmender Belastung ansteigen. Die Steuerüberwälzung kann die beabsichtigten Verteilungswirkungen einzelner Steuern neutralisieren. Reformen sollen daher nicht auf einzelne Steuern isoliert abstellen, sondern die Wirkungen des Steuersystems als Ganzes und zusammen mit den öffentlichen Ausgaben betrachten. Ein transparentes und einfaches Steuersystem senkt die Entrichtungs- und Verwaltungskosten, vermeidet versteckte und schwer nachvollziehbare Umverteilung, und pflegt die Akzeptanz und Steuerehrlichkeit.
Les principes régissant la TVA : de l’utopie à la réalité ?
Pierre-Marie Glauser
Pierre-Marie Glauser
Der Beitrag untersucht, welche Rolle die systemtragende Prinzipien der Mehrwertsteuer bei der Umsetzung dieser Steuer spielen. Diese Leitlinien liegen der Mehrwertsteuer seit deren Entstehung in der Schweiz und unabhängig von der Kodifizierung im Gesetz zugrunde. Der Artikel untersucht die Tragweite der Grundsätze, die in erster Linie eine Anleitung zur Auslegung darstellen, um eine dem Wesen der Mehrwertsteuer als Endverbrauchssteuer entsprechende Anwendung sicherzustellen. Obwohl seit 2001 im Gesetz festgelegt, vermochten sie aber in der Vergangenheit nicht, eine für die Unternehmen neutrale Mehrwertsteuer zu gewährleisten. Der Beitrag zeigt, wie das 2010 in Kraft getretene Mehrwertsteuergesetz die Grundsätze übernommen und in zahlreichen technischen Regeln konkretisiert hat, die effektiv eine effizientere Umsetzung der systemtragende Prinzipien in der Praxis ermöglichen sollten.
Einfluss der EU und der OECD auf das schweizerische Steuerrecht
Die Vorgaben des Unionsrechts für das Steuerrecht
Michael Lang
Michael Lang
Der Beitrag untersucht den Grad der Harmonisierung des Rechts der EU-Mitgliedstaaten und gelangt zum Schluss, dass diese Harmonisierung noch keineswegs weit fortgeschritten ist. Besonders im Bereich der direkten Steuern ist sie bloss punktuell erfolgt. Die bloss beispielhaft herausgegriffenen unionsrechtlichen Vorgaben zeigen aber, welchen Einfluss das Unionsrecht für das Recht der Mitgliedstaaten schon derzeit hat. Treibende Kraft dieser Entwicklungen war und ist der EuGH. Er hat es auch in der Hand darüber zu entscheiden, ob er einige der bisher noch nicht massgebend gewordenen Grundsätze weiter entfaltet und auf diese Weise die steuerpolitischen Spielräume der Mitgliedstaaten weiter beschränkt.
EU law, the BEPS project and the global framework for transparent tax competition
Pasquale Pistone
Pasquale Pistone
Wie wirkt das BEPS-Projekt EU Recht im Zusammenhang mit der Ausübung der Steuersouveränität der EU Mitgliedstaaten? Inwieweit lässt EU-Recht das BEPS-Projekt innerhalb der Europäischen Union anzuwenden? Der Autor plädiert dafür, dass eine stärkere Bekämpfung der Erosion der Steuerbasis und der Gewinnverlagerung nicht per se ein Problem aus der Perspektive des Recht der Europäischen Union darstellt. Hingegen ermöglicht das BEPS Projekt eine wirksame Ausübung der Souveränität im Rahmen eines transparenten Wettbewerbs zwischen den Staaten. EU-Mitgliedstaaten können rechtmäßig hinausgehen, den Kampf gegen missbräuchliche Steuerpraktiken durchzuführen, um die Ausnutzung von grenzüberschreitenden steuerlichen Unterschieden zu stoppen. Jedoch trägt der Autor, dass die Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union im Rahmen des Projekts BEPS nicht zufriedenstellend bearbeitet wurde.
The OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project
Marlies de Ruiter
Marlies de Ruiter
Der Artikel beschreibt die Arbeiten am BEPS-Projekt der OECD und zeigt erste Resultate auf. Zusätzlich wird beschrieben, wie diese Resultate in Zukunft von den Staaten implementiert werden sollen und wie die Kontrolle ausgestaltet wird. Illustriert wird der Prozess am Beispiel der Transferpreisdokumentationen.
Will nexus based patent boxes be internationally safe?
Robert J. Danon
Robert J. Danon
Bei den Patentboxen hat das BEPS-Projekt zu einem Konsens geführt, dem sogenannten modifizierten Nexus-Ansatz, der schädliche Folgen dieser Regimes beheben soll. Zugleich ist der Ansatz ein wichtiger Beitrag zum Substanzkriterium des BEPS-Projekts, wonach Einkünfte dort besteuert werden sollen, wo die wesentlichen Aktivitäten stattfinden. Aus steuerpolitischer Sicht werden die Patentboxen durch den proportionalen Ansatz auch konsistenter und effizienter hinsichtlich des Ziels, F&E zu fördern. Deshalb vertritt der Autor die Ansicht, nexusbasierte Patentboxen sollten nicht nur zulässig, sondern gleichzeitig automatisch vor der Anwendung innerstaatlicher Missbrauchsbestimmungen oder CFC-Regeln gegen bevorzugt besteuerte IP-Erträge geschützt sein. Namentlich wenn Staaten mit einem nexusbasierten Patentregime auf Steuereinnahmen verzichten, um das Wirtschaftswachstum durch Innovation anzukurbeln, ist ein Wegbesteuern des Nutzens solcher Anreize durch andere Staaten nicht akzeptabel. Zu diesem logischen Schluss sollte das BEPS-Projekt, das ja die Koordination unilateraler Massnahmen zum Ziel hatte, nach Meinung des Autors gelangen.